Samstag, 10. Dezember 2011

Die Schuld

Der_Schrei
Marwin und Orélie saßen am Fenster eines Cafés an einem kleinen runden Tisch und kamen alsbald auf die Schuld zu sprechen, weil Orélie mal wieder Albert Camus' Roman Der Fall gelesen hatte.
„In diesem Roman wird sich der Erzähler Jean-Baptiste Clamence, ein ehemals erfolgreicher Anwalt aus Paris, seiner unterlassenen Hilfeleistung auf dem Pont Royal und somit seiner Schuld bewusst. In einer Nacht im November erblickte er beim Überqueren dieser Brücke eine junge Frau, die sich über das Geländer beugte und einige Augenblicke später vernahm er das Aufklatschen ihres Körpers auf das Wasser der Seine. Doch eilte er ihr nicht zu Hilfe, obwohl er wiederholt einen Schrei vernahm, der plötzlich verstummte. Aber von diesem Zeitpunkt an erhebt er gegen sich selbst Anklage”, begann Orélie das Gespräch. „Ja”, antwortete Marwin, „bis dahin verteidigte er die Angeklagten mit seiner ganzen Hingabe und allen ihm gegebenen Mitteln. Und er fühlte sich über den Parteien stehend und jeder Schuld enthoben. In einer Amsterdamer Kneipe führt er mit einem dort anwesenden Besucher eine Art Selbstgespräch, bei dem er sich als Bußrichter bezeichnet. Und zu seinem zuvor geführten Leben sagt er: „Die Richter straften, die Angeklagten sühnten, und ich, jeder Verpflichtung ledig, vom Urteil und seiner Vollziehung gleichermaßen unberührt, herrschte frei in paradiesischem Licht.”„ Außerdem genoss er sein Leben, indem er von einem Fest und Trubel zum anderen eilte. „So jagte ich dahin, immer erfolgreich, immer unersättlich, ohne zu wissen, wo ich innehalten sollte, bis zu dem Tag, bis zu dem Abend vielmehr, da die Musik abbrach, die Lichter erloschen. Das Fest, auf dem ich glücklich gewesen war…”
„Nach der nicht geleisteten Hilfe erträgt Clamence sein Leben nur schwer. „Eine Zeitlang ging es aufwärts, dann wieder bergab. Ich trug schwerer am Leben: freudloser Körper, freudloses Gemüt. Mir schien, ich verlerne teilweise, was ich gelernt hatte und doch so gut konnte, nämlich leben.” „Außerdem erkennt er die Zwiespältigkeit seines bisherigen Verhaltens”, unterstrich Orélie. „Zumindest merkte ich, dass ich einzig und allein so lange auf Seiten der Schuldigen, der Angeklagten, stand, als ihr Vergehen mir nicht zum Nachteil gereichte. Ihre Schuld verlieh mir Beredsamkeit, weil nicht ich ihr Opfer war. Fand ich mich selbst bedroht, so wurde ich nicht nur meinerseits zum Richter, sondern darüber hinaus zum jähzornigen Gebieter, der ohne Ansehen der Gesetze danach verlangte, den Delinquenten niederzuschlagen und in die Knie zu zwingen. Nach einer solchen Feststellung, Verehrtester, ist es recht schwierig, weiterhin ernsthaft zu glauben, man sei zur Gerechtigkeit berufen, zur Verteidigung der Witwen und Waisen prädestiniert.”
„Ja”, sagte Marwin darauf, „ Albert Camus lässt Clamence sagen: „So ist der Mensch, er hat zwei Gesichter: Er kann nicht lieben, ohne sich selbst zu lieben.” Und Karl Rahner schreibt ebenso: „Wir haben uns im Leben mit unserer Umgebung zu einer Koexistenz arrangiert, weil so unser Egoismus noch die besten Chancen hat, einigermaßen durchzukommen.” „Das Leben des Menschen auf Erden ist für Rahner „Erprobung und Anfechtung. Das ist die Lebenssituation, über die keine Klage und kein Bedauern hinweghilft, die einfach gesehen und angenommen und – bestanden werden muss.”
Und in seiner Schrift„Den Entscheidungen nicht ausweichen!” schreibt er: „Es ist nämlich nicht so, dass der endliche Mensch alles aus einem einzigen Prinzip ableiten könnte, was er zu tun und zu verwirklichen hat. Er hat unüberwindlich eine Vielzahl von Prinzipien. Ihre gleichzeitige Respektierung ist nur durch Entscheidung möglich, und dafür bedarf es der Imperative.” „Nach dem Vorfall auf der Brücke versucht Clamence, den Entscheidungen zu entfliehen”, gab Orélie zu verstehen, „denn er sagt: „Ich gehe nachts nie über eine Brücke. Ein Gelübde. Stellen Sie sich doch einmal vor, es stürze sich einer ins Wasser. Dann stehen Ihnen zwei Möglichkeiten offen: Entweder Sie springen nach, um ihn herauszufischen, was in der kalten Jahreszeit die denkbar schlimmsten Folgen für Sie haben kann! Oder aber Sie überlassen ihn seinem Schicksal, doch nach unterbliebenen Kopfsprüngen fühlt man sich manchmal seltsam zerschlagen.”
„Doch macht Albert Camus genauso wie Karl Rahner deutlich, dass der Mensch gar nicht anders kann, als Entscheidungen zu treffen. Und so hört Clamence einige Zeit später beim Überqueren des Pont des Arts hinter sich ein Lachen, das er noch vernimmt, als es längst wieder verklungen ist. Clamence sagt: „Es kam aus dem Nichts oder vielleicht aus dem Wasser. Gleichzeitig wurde mir das heftige Klopfen meines Herzens bewusst. Verstehen Sie mich recht: Das Lachen hatte nichts Geheimnisvolles an sich; es war ein herzliches, natürliches, beinahe freundschaftliches Lachen, das alle Dinge an ihren Platz rückte. ” „ Durch das Lachen sieht er sich wieder der Frage nach seiner Schuld ausgesetzt, denn es ruft ihm die Frau auf dem Pont Royal und seine unterlassene Hilfeleistung ins Gedächtnis zurück. Er geht nach Hause und hört plötzlich im Freien ein Lachen, woraufhin er aus dem Fenster schaut. Auf der Straße erblickt er ein paar junge Burschen, die sich voller Fröhlichkeit voneinander verabschieden. Er geht ins Badezimmer und betrachtet sich im Spiegel: „Mein Bild lächelte im Spiegel, aber mir schien, mein Lächeln sei doppelt…”
„Ein anderes Beispiel kommt mir in den Sinn”, fuhr Marwin fort, „das zeigt, dass Clamence sich nicht um die Entscheidung herumdrücken kann, und diese im Zusammenhang mit der Schuld steht. Gemeinsam mit einer Freundin unternimmt er eine Reise an Bord eines Ozeandampfers. Bei einem Spaziergang auf dem Deck des Schiffs entdeckt er in der Ferne einen dunklen Punkt, der sofort die Gestalt auf dem Pont Royal in ihm wach werden lässt. Es stellt sich heraus, dass es sich um Abfälle handelt, aber für ihn ist es wieder das Drama seines Lebens. „Ich wollte eben zu schreien beginnen, sinnlos um Hilfe rufen. Da merkte ich – ohne mich aufzulehnen, wie man sich mit einem Gedanken abfindet, dessen Wahrheit man seit langem erkannt hat – ,dass jener Schrei, der Jahre zuvor in meinem Rücken auf der Seine ertönte, aus dem Fluss in den Ärmelkanal getrieben war und nicht aufgehört hatte, über die unermessliche Weite der Meere hinweg durch die Welt zu geistern, dass er auf mich gewartet hatte bis zum Tag, da ich ihm wieder begegnen würde. Ich wusste auch, dass er weiterhin auf Meeren und Strömen auf mich warten würde, überall dort, wo sich das bittere Wasser meiner Taufe fand. Sind wir nicht auch hier noch auf dem Wasser, auf dem flachen, einförmigen, endlosen Wasser, dessen Grenzen mit denen der Erde verfließen?"
„Da er der Schuld nicht entkommen kann, sucht Clamence nach verschiedenen Auswegen, um mit ihr leben zu können”, ließ Orélie wissen, „und so will er sich auch zu Gott machen. „Dann wachse ich, mein Lieber, wachse ins Unermessliche, dann atme ich frei, ich stehe auf dem Gipfel des Berges, und zu meinen Füßen breitet sich die Ebene. Wie berauschend ist es doch, sich als Gott-Vater zu fühlen und unwiderrufliche Zeugnisse über schlechten Lebenswandel auszuteilen. Von meinen wüsten Engeln umgeben, throne ich am höchsten Punkt des holländischen Himmels und beobachte, wie die aus Nebeln und Wassern auftauchenden Scharen des Jüngsten Gerichts zu mir emporsteigen. Langsam, langsam erheben sie sich, gleich wird der Erste da sein. In seinem verstörten, von der einen Hand halbverborgenen Gesicht lese ich die Trostlosigkeit des gemeinsamen Loses und die Verzweiflung, ihm nicht entgehen zu können. Ich aber bemitleide, ohne loszusprechen, verstehe, ohne zu vergeben, und vor allen Dingen spüre ich endlich, dass man mich anbetet!” „Mit diesen Worten klagt Clamence gleichzeitig Gott an”, fuhr Orélie fort, „denn im Grunde möchte er die Schuld los sein. „Im Grunde möchten wir nicht mehr schuldig sein und gleichzeitig keine Anstrengung machen, um uns zu läutern. Wir sollten die Geduld aufbringen, das Jüngste Gericht abzuwarten. Aber eben, wir haben es eilig. ”
„ Clamence fragt sich auch”, gab Marwin zu verstehen, „ob er der Menschheit fluchen soll.” „Sollte ich mich wie so viele meiner illustren Zeitgenossen auf eine Kanzel hissen und der Menschheit fluchen? Ein höchst gefährliches Unterfangen! Eines Tages oder eines Nachts platzt aus heiterem Himmel das Lachen los. Der Urteilsspruch, den man über den anderen verhängt, fliegt einem zuletzt wie ein Bumerang geradewegs ins eigene Gesicht und richtet dort allerlei Verheerungen an.”
„Karl Rahner lehnt es ebenfalls ab, dass der Mensch das Böse zu „ einem allgemeinen Konstitutivum seines faktischen Wesens macht”, brachte Orélie zum Ausdruck, „wer das tut, schreibt Rahner, „der radikalisiert scheinbar die Sünde, er macht sie so allgemein, er setzt sie so früh, noch vor der in Wirklichkeit nach rückwärts unauflösbaren Tat des je einmaligen Ichs an, dass er sehr leicht allen befehlen kann: Bekennt euch als Sünder! Aber im Chor aller versteckt sich der einzelne, und, ob man will oder nicht, das Bekenntnis je meiner einmaligen Schuld verwandelt sich in einen lyrisch-allgemeinen, in Moll gehaltenen Klagegesang über die „Misere” des Menschen. So ist es aber in Wahrheit nicht. Es gibt so sehr „je-meinige” Schuld als Tat des einmal einzelnen. ”
„Für Karl Rahner ist es zuerst einmal wichtig, das Vergebungswort Gottes zu hören”, hob Marwin hervor, „und so schreibt Rahner: „Wo ist dieses Vergebungswort Gottes zu hören, das nicht nur Folge, sondern im letzten Grund Voraussetzung für die Umkehr ist, in der der schuldige Mensch glaubend, reuig vertrauend sich Gott zuwendet und übergibt? Dieses leise Vergebungswort kann in der Tiefe des Gewissens gehört werden, weil es ja schon als tragender Grund mitten in jener vertrauenden und liebenden Rückwendung des Menschen zu Gott innewohnt. Und dieses raumzeitlich konkret werdende Vergebungswort Gottes an die Menschheit hat ihren Höhepunkt und eine letzte geschichtliche Unwiderruflichkeit gefunden in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, in dem, der liebend sich solidarisierte mit den Sündern und für uns in der letzten Tat seines Glaubens, Hoffens und Liebens mitten in der Finsternis seines Todes, in dem er die Finsternis unserer Schuld erfuhr, das Vergebungswort Gottes für uns annahm.” Und Orélie fügte hinzu: „In Albert Camus' Tagebüchern habe ich gelesen: „In Christus geht der Tod zu Ende, der in Adam begann.”
Nach einer Weile kamen Orélie und Marwin wieder auf Clamence zurück, und sie waren sich einig, dass seine verschiedensten Versuche, seiner Schuld zu entkommen, scheitern. Er findet keine ideale Lösung und sagt: „Aber die gleichen Vögel kreischten, riefen schon auf dem Atlantik an dem Tag, da ich endgültig merkte, dass ich nicht geheilt war, dass ich immer noch festsaß und dass ich mich danach einrichten musste. Schluss mit dem glorreichen Leben, Schluss aber auch mit dem Toben und sich Aufbäumen! Ich musste mich unterwerfen und meine Schuldhaftigkeit eingestehen.” Clamence erkennt letztlich, dass er gegen die Schuld nicht ankommen kann und „ die Unschuld nur Gott verbürgen könnte .” Aber da er nicht an Gott glaubt, sagt er: „Wenn man sein eigenes Leben nicht liebt und weiß, dass man ein anderes anfangen muss, bleibt einem ja keine Wahl, nicht wahr? Was tun, um ein anderer zu werden? Unmöglich. Dann müsste man schon niemand mehr sein, sich für irgendjemand selbst vergessen, wenigstens ein einziges Mal. Aber wie? Tadeln Sie mich nicht zu hart. Ich gleiche jenem alten Bettler, der eines Tages in einem Café meine Hand nicht loslassen wollte. „Ach, wissen Sie, Monsieur”, sagte er, „man ist ja nicht eigentlich ein schlechter Mensch, aber man verliert das Licht.” So ist es, wir haben das Licht verloren, die Morgenröte, die heilige Unschuld dessen, der sich selbst vergibt.”
„Vom christlichen Verständnis der Schuld”, sagte Marwin, „kann der Mensch sich nicht selbst vergeben, und er würde etwas verlangen, was die Welt nicht geben kann. Karl Rahner schreibt: „Wir verlangen nach etwas und wissen nicht, was; aber wir sind sicher, es ist etwas, das die Welt nicht geben kann. Und wir müssen diesem unbekannten, ersehnten und geliebten Wesen nur den wahren Namen geben: Gott. So erwacht wie von selbst die Liebe zu Gott in unserer Seele, wie von selbst verlangt der Mensch nach dem Gott seines Herzens und auch seinem Anteil in Ewigkeit. Wie von selbst fängt er an, den zu suchen, der allein noch bleibt, wenn alles versinkt, den Einzigen, der ihn immer umgibt und liebt, den Gott der Sehnsucht unseres armen Herzens.”
„Doch ist für Karl Rahner”, machte Orélie deutlich, „ ein Christ in der falschen Position, wenn er fragt: „ Ach, Gott, wo ist dieses Werk Gottes und seiner machtvoll befreienden Gnade, die uns aus der Grube unseres bösen, ohnmächtig in sich selbst erstickten Herzens herausholt?” Denn wer so fragt, nimmt zweifelnd Abstand zu Gott und seiner Gnade. Man erfährt die Gnade nur, indem man von ihr nicht verlangt, dass sie sich uns zuerst vorstellt, indem man geht und nicht fragt, ob man gehen kann, springt, obwohl man nur in den Abgrund der eigenen Ohnmacht zu fallen wähnt.”
„Ja”, sagte Marwin, „der Mensch kann sich nicht zu seinem eigenen Schiedsrichter machen. Karl Rahner schreibt:„Der Mensch würde aufhören, ein Mensch dieser Erde zu sein, wollte er in der bittern Ungeduld, nie eigentlich zu wissen, nie aussprechbar, „schwarz auf weiß” zu wissen, was nun eigentlich an ihm ist, sich gleichsam noch umwenden, um der Tat seines Lebens zuzusehen, um auch noch den Schiedsrichter bei seinem „Lauf” zu machen, ob er rechten Zieles und schnell genug ist. Er kann nur laufen und vor lauter Laufen – weg von sich, zu Gott hin – vergessen, darüber nachzudenken, dass er läuft. Und weil nur der Laufende gerechtfertigt ist vor Gott und wir alle noch am Laufen sind und darum vergessen müssen, was hinter uns liegt, selbst wenn darin das Entscheidende schon erreicht war, darum ist das eigentliche Gebet, das wir Gott über uns zu sagen haben, nie: Ich bin in Deiner Gnade, sondern immer wieder: Erbarme Dich meiner, der ich ein Sünder bin.”
„Dieses Gebet enthält als Aufgabe für den Menschen, wie Rahner schreibt, „die Aufforderung zu humaner Anständigkeit, zu Güte, Geduld, Friedlichkeit, Gelöstheit des singenden Herzens und all dem anderen, ohne das der Alltag des Lebens in Ausweglosigkeit sich verfängt. Aber dieser sehr nüchterne Imperativ des Alltags kommt jetzt als Wort der Gnade.
„Und Albert Camus macht sich zum Fürsprecher der Revolte,” erklärte Orélie ,„denn im Gegensatz zu Clamence, der am Ende seines Monologs höhnisch sagt, dass es glücklicherweise immer zu spät sein wird, sich und das Mädchen zu retten, schreibt Camus: „Indem sie protestiert gegen das, was der Tod an Unvollendetem und das Böse an Zerrissenem ins Dasein bringen, ist die Revolte die begründete Forderung einer glücklichen Einheit gegen das Leid des Lebens und Sterbens. Wir müssen der Gerechtigkeit dienen, weil unser Wesen ungerecht ist, das Glück und die Freude fördern, weil diese Welt unglücklich ist. Gleichermaβen dürfen wir nicht zum Tode verurteilen, da man zum Tode Verurteilte aus uns gemacht hat.“
Marwin und Orélie hielten inne und schauten durch die Fensterscheibe dem Treiben der Menschen auf der Straße zu.

Das absurde Denken
Das Engagement
Der Atheismus
Der Fall
Der Tod
Die Freiheit
Die Geschichte
Die Gnade
Die Gottesferne
Die Pest
Die Revolte
Einleitung
Jesus Christus
Zeitungsartikel
Zwischen Ja und Nein
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren