Samstag, 4. September 2010

Gethsemane

Gethsemane

Orélie saβ zusammen mit Jurik in einem Café, und sie konnte sich nur schwerlich konzentrieren. Eine Trauer stieg in ihr auf, und sie senkte verlegen ihre Blicke. „Hast du eigentlich genug Schlaf? Du siehst übernächtigt und mit den dunklen Ringen unter deinen Augen beinahe wie der Tod aus,“ sagte Jurik sichtlich besorgt.
„Sei nicht töricht. Doch denke ich in letzter Zeit des öfteren an den Tod, und kann mit Albert Camus nachfühlen, wenn er schreibt:

„Die Entdeckung des Absurden fällt mit einer Zeit des Stillstands zusammen, in der sich die künftigen Leiden entwickeln und ihre Rechtfertigung erhalten. Selbst die Menschen ohne Evangelium haben ihren Ölberg. Wenn die Bilder der Erde zu sehr im Gedächtnis haften, wenn das Glück zu dringend mahnt, dann steht im Herzen des Menschen die Trauer auf: das ist der Sieg des Steins, ist der Stein selber. Die gewaltige Not wird schier unerträglich. Das sind unsere Nächte von Gethsemane.“
„Albert Camus und Karl Rahner sind sich hierin einig“,antwortete Jurik, „in seiner Schrift Glaube, der die Erde liebt schreibt Rahner:
„Die Erde, unsere große Mutter, ist selbst bekümmert. Sie stöhnt unter der Vergänglichkeit. Ihre fröhlichsten Feste sind plötzlich wie der Beginn einer Totenfeier, und wenn man ihr Lachen hört, zittert man, ob sie nicht im nächsten Augenblick unter einem Gelächter weint.“

Orélie stimmte zu und fuhr fort: „Karl Rahner nennt den Garten von Gethsemane auch das verlorene Paradies.
„Es ist der Garten, aus dessen Früchten, die Menschen das Öl der Freude keltern wollten, der aber in Wirklichkeit der Garten des verlorenen Paradieses war.“
Denn in diesem Garten wird sich Jesus seines Menschseins und somit seiner Sterblichkeit bewusst, und die Angst vor dem Tod ist allgegenwärtig.“

„Für Albert Camus macht Christus dem Problem des Bösen und des Todes ein Ende“, erklärte Jurik, „denn durch seinen Tod am Kreuz, in dem er die Sünde der Menschheit auf sich nimmt, besiegt er das Böse und den Tod.“

„Du machst aus Camus fast einen Christen,“ machte Orélie geltend, „ich kenne diese Stelle in seinem Buch Der Mensch in der Revolte, die in dem Teil Die metaphysische Revolte steht und dort ganz anders klingt. So möchte ich deine Aufmerksamkeit auf die Tatsache ziehen, dass sich Albert Camus gegen die Weltordnung auflehnt, da diese durch das Böse, das Unrecht, die Ungleichheit und den Tod, den er als den gröβten Skandal bezeichnet, bestimmt ist. Und deswegen ruft Camus den Menschen zur ständigen Revolte auf.

„Wenn die allgemein gewordene Todesstrafe die Lebenslage der Menschen bestimmt, so ist die Revolte in einem Sinn ihre Zeitgenossin. Zu gleicher Zeit, da der Revoltierende sich gegen seine Sterblichkeit verwahrt, weigert er sich, die Macht anzuerkennen, die ihn darin leben lässt. Wer metaphysisch revoltiert, ist also nicht unweigerlich ein Gottesleugner, wie man glauben könnte, aber er ist notwendigerweise ein Gotteslästerer. Nur lästert er zuerst im Namen der Ordnung, indem er in Gott den Vater des Todes und den gröβten Skandal aufdeckt.“

„Es ist richtig“, ergriff Jurik das Wort, „der metaphysisch Revoltierende weist Gott die Schuld an dem Desaster in der Welt zu und wird zum Gotteslästerer. So schreibt Albert Camus weiter:

„Der Revoltierende fordert eher heraus, als dass er leugnet. Am Anfang wenigstens beseitigt er Gott nicht, er spricht einzig als Ebenbürtiger mit ihm. Doch handelt es sich nicht um ein höfliches Zwiegespräch. Es handelt sich um eine Polemik mit dem Wunsch zu siegen.“

Und nun lass uns auf Jesus Christus zurückkommen, in dem Albert Camus einen Mittler zwischen Gott und den Menschen erkennt. Doch bleibt am Ende nur der Schrei der menschlichen Verzweiflung. Camus schreibt:
„Christus kam, zwei Hauptprobleme zu lösen: das Böse und den Tod, die beide gerade die Probleme der Revolte sind. Seine Lösung bestand zuerst darin, sie auf sich zu nehmen. Der Gottmensch leidet auch, und mit Geduld. Das Böse wie der Tod können ihm nicht völlig zugeschrieben werden, da auch er zerrissen ist und stirbt. Die Nacht von Golgatha hat nur darum für die Geschichte der Menschen soviel Bedeutung, weil in ihrem Dunkel die Gottheit, sichtbar auf alle hergebrachten Privilegien verzichtend, bis zu ihrem Ende, alle Verzweiflung eingeschlossen, die Todesangst durchlebt. So erklärt sich das Lama asabthani und Christi grauenhafter Zweifel in der Agonie.“

„Diesbezüglich ist anzumerken, dass Jesus für einen Christen nicht in die Welt gekommen ist, um für unsere ungelösten Probleme eine Lösung zu finden“, machte Orélie deutlich, „Christus ist nicht der Deus ex machina, der in der Welt eingreift, alle Tränen wegwischt und der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft. Jesus ist Gottes Sohn, der in die Welt kam und seinen Vater mit Abba ansprach. Karl Rahner schreibt in seinem Buch Gnade als Freiheit in dem Kapitel Gott, unser Vater :

„Die Geschichte, in der wir miteinander leben, ist der Ort, an dem jeder zu sich selbst kommt. Da aber können wir einen Menschen treffen, der sich selbst einfach den „Sohn“ nannte und, wenn er das Geheimnis seines Lebens beschwor, Vater sagte. Er nannte dieses abgründig finstere Geheimnis, das er als solches kannte, mit einer rührend beschwörenden Zärtlichkeit: Abba. Und er nannte es nicht nur so, wenn ihm in dieser Welt Schönheit und Hoffnung hinweghalfen über die Unbegreiflichkeit des Daseins, sondern auch als er in die Finsternis des Todes fiel und der Kelch, darin alle Schuld, Vergeblichkeit und Leere der Welt, höllisch destilliert, gesammelt waren, an seine Lippen gesetzt wurde und in Geist und Herz nur noch das verzweifelte Wort des Psalmisten übrigblieb: Mein Gott, warum hast du mich verlassen. Auch dann war jenes zugleich frühere und spätere, alles umfassende Wort gegenwärtig, in dem auch die Gottverlassenheit geborgen blieb: Vater, in deine Hände empfehle ich mein Leben.“

So ist der Leidensweg Jesu Christi, wie Karl Rahner schreibt:

„ die abgründig einmalige Annahme der Passion der Menschheit, in der diese Menschheitspassion angenommen, durchlitten, erlöst und befreit ist in das Geheimnis Gottes hinein.“

Die Nacht im Garten Gethsemane wie die von Golgatha bietet sich uns dar als die Heilszusage Gottes an die Menschen, die durch Jesus Christus Wirklichkeit wurde. Es ist die Liebe Gottes, den Menschen durch das Leiden Jesu zum Heil berufen zu haben. Karl Rahner schreibt ermutigend:

„Menschwerdung Gottes sagt: Traue der Nähe, sie ist nicht Leere. Lass los, dann findest du; gib auf, und du bist reich. Wenn wir der Botschaft der Menschwerdung entgegengehen mit der Sehnsucht des Herzens, das hoffend der letzten Frage des Daseins sich stellt, dann können wir das Fest der Ankunft des Sohnes feiern, in dem das Geheimnis, das wir Gott nennen, wirklich als bergende Nähe da ist, wo wir selber sind, auf der Erde und im Fleisch. Dann können wir das ursprunglose Geheimnis getrost Vater nennen. Wir bekennen dann das Einfachste unseres Daseins, dessen Selbstverständlichkeit zu begreifen die eine, schwerste Aufgabe für die Tapferkeit des Geistes und des Herzens ist: dass Gott nicht nur „an sich“ gut ist, sondern, obwohl es anders sein könnte, sich selbst als Liebe, sich selbst als unsere eigene Zukunft mit seiner ganzen Herrlichkeit in diese Welt als deren wahren Ausgang und letztes Ende eingestiftet hat.“

„Für Albert Camus blieb der Tod ein nicht hinzunehmender Skandal, und so notierte er in seinen Tagebüchern:

„Ah, die Strafkolonie, das Paradies der Strafkolonie!”

„Albert Camus wehrte sich gegen Gott”, sagte Orélie darauf, „weil er sich in der Welt, die den Tod impliziert, wie ein Betrogener vorkam. In seinen Tagebüchern schreibt er:

„Es gibt nur einen Fall reiner Verzweiflung. Das ist der Fall des zum Tode Verurteilten. Das Grauen entsteht hier aus der Gewissheit – vielmehr aus dem mathematischen Faktor, der diese Gewissheit ausmacht. Das Absurde wird hier vollkommen deutlich. Es hat alle Anzeichen der Gewissheit. Nun gut, so werde ich eben sterben. Vielleicht früher als andere. Wenn man schon stirbt, ist es ohne Belang, wie und wann. Ich muss mich also fügen. Da sind sie schon. Und dabei ist noch dunkle Nacht. Sie sind früher gekommen. Ich bin betrogen. Ich sage euch, ich bin betrogen…“

„Karl Rahner schreibt in seiner Schrift Das christliche Sterben, dass kein Mensch konkret weiß, wie es mit seinem Tod bestellt ist”, fuhr Jurik fort, „Rahner schreibt: „Der Mensch erfährt den selben Tod als den Höhepunkt seiner Verohnmächtigung; er weiß, dass seine Freiheit eben diese Verohnmächtigung bis zum Letzten hoffend annehmen muss. Der Mensch kann sich nicht noch einmal reflex und mit Sicherheit sagen, wo und wie, im Leben oder Sterben, ihm, dem Ohnmächtigen, die Möglichkeit solcher annehmenden Freiheitstat gegeben gewesen ist und ob er tatsächlich angenommen hat. Insofern in diesem Tod das unbegreifliche Geheimnis Gottes nahekommen soll, das sowohl die Unbegreiflichkeit seines Wesens als auch die seiner Freiheit gegenüber dem Menschen umschließt, wird die Unbegreiflichkeit des Todes in seiner Verhülltheit endgültig." Orélie schloss weitere Worte von Karl Rahner an, die er in seiner ersten gröβeren autobiographischen Darstellung geschrieben hat:

„Wie lange dauert es noch, bis es für immer Abend ist? Ich weiβ es nicht. So macht man weiter, solange noch Tag ist. Am Ende geht man mit leeren Händen fort, ich weiβ es. Aber so ist es gut. Dann schaut man auf den Gekreuzigten. Und geht. Was kommt ist die selige Unbegreiflichkeit Gottes.“

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