Mittwoch, 7. März 2012

Innerweltliche Zukunftsutopien

SartreMarx

Marwin und Orélie hatten sich in einem Café eingefunden, und zwei Espressos wie auch zwei mit Wasser gefüllte Gläser standen vor ihnen. „Du weißt ja, dass Albert Camus und Karl Rahner innerweltliche Zukunftsutopien ablehnten,” begann Orélie mit dem Gespräch.

„Ja,” antwortete Marwin, „so schreibt Karl Rahner: „Für das Christentum ist alles nur verständlich von dem Ausständigen her.” „Und er nennt das Christentum „eine Religion der absoluten Zukunft, die ankünftig ist und keine innerweltliche Zukunftsutopie in sich trägt.”
„Hierbei ist wichtig”, erklärte Orélie, „dass die absolute Zukunft kein Gegenstand kategorialer Benennung ist. Rahner schreibt: „Dass dieses Ganze der absoluten Zukunft nicht eigentlich Gegenstand kategorialer Benennung, nicht Gegenstand der technischen Manipulierung werden kann, sondern das unsagbare Geheimnis bleibt, das aller Einzelerkenntnis und je einzelnen Tat an der Welt vorausliegt und diese überbietet, ergibt sich aus dem Wesen des Ganzen der absoluten Zukunft selbst. Denn die absolute Zukunft kann von ihrem Begriff her nicht als die durch endliches Einzelmaterial und kategoriale Zusammensetzung herstellbare sein. Sie kann aber auch als Woraufhin und Ermächtigung der Dynamik der Zukunftsbewegung der Welt und des Menschen, als tragende Hoffnung nicht bloss das nur leere Mögliche als das Noch-nicht-Wirkliche sein. Sie muss die absolute Fülle der Wirklichkeit sein als der tragende Grund der Zukunftsdynamik. Diese so verstandene absolute Zukunft aber nennen wir eben gerade Gott.”
„Und so schreibt Rahner auch, „dass nämlich die Welt eine absolute Zukunft, und zwar wirklich als heile besitzt, dass ihr Werden erst in der Absolutheit Gottes selbst ihr Ziel hat, so ist es berechtigt, wenn wir sagen, das Christentum sei die Religion der absoluten Zukunft.”
„Doch lässt Karl Rahner auch den Menschen nicht außer Acht”, merkte Marwin an, denn Rahner schreibt, dass der Mensch die Unendlichkeit erfahren könne, indem „das unsagbare Geheimnis, das wir Gott nennen, nicht nur der immer ferne bleibende Horizont unserer Transzendenzerfahrungen, unserer Endlichkeitserlebnisse bleibe, sondern dass die Unendlichkeit als solche in das Herz des Menschen fallen könne. Und dadurch, dass diese Ankunft Gottes selbst die wahre und einzig unendliche Zukunft des Menschen ist, hat das Christentum alle innerweltlichen Zukunftsideologien und –utopien immer schon unendlich überholt.”

„Nun sollen wir zu Albert Camus kommen”, sagte Orélie, „der von einem dem Menschen und allen anderen Menschen gemeinsamen Wert ausgeht. In seiner Essaysammlung Der Mensch in der Revolte schreibt er: „Das Individuum handelt also im Namen eines noch ungeklärten Wertes, von dem es jedoch zum mindesten fühlt, dass er ihm und allen anderen Menschen gemeinsam ist. Man sieht, dass die jedem Aufstand innewohnende Bejahung sich auf das erstreckt, was den Einzelnen insofern übersteigt, als es ihn aus seiner angeblichen Einsamkeit zieht und ihm einen Grund zum Handeln gibt. Doch ist es wichtig, jetzt schon zu bemerken, dass dieser Wert, der vor jeder Handlung vorausbesteht, den rein historischen Philosophien widerspricht, nach welchen ein Wert (wenn er sich überhaupt gewinnen lässt) erst am Ende einer Handlung gewonnen wird.”
„So lehnte Camus eine Logik der Geschichte ab. Er schreibt:„Sobald die Logik der Geschichte völlig hingenommen wird, führt sie entgegen ihrer höchsten Leidenschaft nach und nach dazu, den Menschzen zusehends zu verstümmeln und sich selbst in objektives Verbrechen zu verwandeln. Der Kommunismus strebt in seinem tiefsten Prinzip danach, alle Menschen zu befreien, indem er sie alle vorübergehend knechtet.” „Und daher ist für Camus der wahre Revolutionär der Revoltierende. Camus schreibt:„Der Revolutionär ist zu gleicher Zeit ein Revoltierender, oder er ist nicht mehr Revolutionär, sondern Polizist und Beamter, der sich gegen die Revolte wendet. Aber wenn er ein Revoltierender ist, wird er sich schließlich gegen die Revolution erheben. Derart, dass es von einer Haltung zur anderen keinen Fortschritt gibt, sondern nur Gleichzeitigkeit und unausgesetzt wachsenden Widerspruch.” „Und in einer Antwort aus dem Jahr 1947 an Emmanuel d'Astier de La Vigerie schreibt Camus: „Meine Rolle, ich kenne es an, ist es nicht, die Welt, noch den Menschen zu ändern. Ich bin dafür nicht tugendhaft, noch erleuchtet genug. Aber sie besteht vielleicht darin, an meinem Platz einigen Werten zu dienen, ohne die eine Welt, sogar verändert, es nicht wert ist, gelebt zu werden, ohne die, ein Mensch, sogar ein neuer, es nicht wert sein wird, geachtet zu werden. Es gibt eine Geschichte, und es gibt etwas anderes, das einfache Glück, die Leidenschaft der Menschen, die natürliche Schönheit. Dies sind zugleich Wurzeln, die von der Geschichte ignoriert werden, und da Europa sie verloren hat, ist es heute eine Wüste.”
„So lehnte Albert Camus auch jede innerweltliche Zukunftsutopie ab”, sagte Marwin darauf, „denn der Revoltierende verteidigt einen von Außen nicht antastbaren Wert, der im Menschen zu verteidigen ist. Camus schreibt: „In unserer täglichen Erfahrung spielt die Revolte die gleiche Rolle wie das cogito auf dem Gebiet des Denkens: sie ist die erste Selbstverständlichkeit. Aber diese Selbstverständlichkeit entreißt den einzelnen seiner Einsamkeit. Sie ist ein Gemeinplatz, die den ersten Wert auf allen Menschen gründet. Ich empöre mich, also sind wir. Der Revoltierende kämpft für die Unversehrtheit eines Teils seines Wesens. Er sucht zuvörderst nicht, etwas zu erobern, sondern etwas durchzusetzen.” „Daher kritisierte Albert Camus die Revolution”, fuhr Orélie fort, „da in ihr dieser Wert geleugnet und aus dem Menschen eine Geschichtskraft gemacht wird. Camus schreibt: „Die absolute Revolution setzte tatsächlich die absolute Formbarkeit der menschlichen Natur voraus, ihre mögliche Rückbildung auf den Stand einer Geschichtskraft. Aber die Revolte ist die Weigerung des Menschen, als Ding behandelt und auf die bloße Geschichte zurückgeführt zu werden. Sie ist die Bekräftigung einer allen Menschen gemeinsamen Natur, die sich der Welt der Macht entzieht.” „Die Revolte steht im Kontrast zur Revolution, die innerweltliche Zukunftsutopien impliziert”, machte Marwin deutlich,„Camus schreibt: „Die ehrlose Revolution, die Revolution der Berechnung, die, indem sie einen abstrakten Menschen demjenigen von Fleisch und Blut vorzieht, das Sein verleugnet, sooft es nötig ist, stellt genau an die Stelle der Liebe das Ressentiment.” „Da in der Revolution, wie Camus schreibt, „ der Mensch nichts ist, wenn er nicht durch die Geschichte, freiwillig oder gezwungen, die einmütige Zustimmung erhält. Genau an diesem Punkt ist die Grenze überschritten, die Revolte zuerst verraten und dann logischerweise erstickt. Aber die Bejahung einer Grenze, einer Würde und einer den Menschen gemeinsame Schönheit zieht nur die Notwendigkeit nach sich, diesen Wert auf alle und alles auszudehnen und auf die Einheit zuzugehen, ohne die Ursprünge zu verleugnen. In diesem Sinn rechtfertigt die Revolte in ihrer ursprünglichen Echtheit kein rein geschichtliches Denken. Die Forderung der Revolte ist die Einheit, die Forderung der geschichtlichen Revolution die Totalität.”
„Für Albert Camus ist eine ethische Rechtfertigung der Gerechtigkeit entscheidend”, hob Orélie hervor, „und so schreibt er: „Die Forderung nach Gerechtigkeit führt am Schluss zur Ungerechtigkeit, wenn sie nicht zuvor durch eine ethische Rechtfertigung der Gerechtigkeit begründet wird. Ohne das wird das Verbrechen eines Tages auch zur Pflicht. Wenn das Böse und das Gute wieder in die Zeit eingegliedert und mit den Ereignissen verschmolzen werden, ist nichts mehr gut oder böse, sondern nur verfrüht oder veraltet. Wer entscheidet über die Opportunität, wenn nicht der Opportunist? Später, sagen die Schüler, werdet ihr richten. Aber die Opfer sind nicht mehr da, um zu richten. Für das Opfer ist die Gegenwart der einzige Wert.”
„Und Karl Rahner wies im Namen des Christentums ebenso jede Zukunftsplanung zurück, bei der die Versuchung besteht „sie mit solcher Gewalt zu betreiben, dass jede Generation brutal zugunsten der nächsten und so fort geopfert wird, und so die Zukunft zum Moloch wird, vor dem der reale Mensch für den nie wirklichen, immer ausständigen geschlachtet wird.” „Und die von Albert Camus verlangte ethische Rechtfertigung der Gerechtigkeit findet bei Rahner durch die absolute Zukunft jedes Menschen ihre Begründung”, gab Marwin zu verstehen, „Rahner schreibt: „Insofern im Christentum durch die absolute Zukunft jedes Menschen allein die Begründung des absoluten Wertes jedes Menschen gegeben ist, ist durch es eine Überzeugung gegeben, die auch in der innerweltlichen Zukunftssorge in der Erzielung einer möglichst vollkommenen Gesellschaftsordnung ihre festeste und tiefste Begründung verleiht.”
„Albert Camus verteidigte in der Revolte einen dem Menschen inne wohnenden absoluten Wert”, antwortete Orélie,„doch suchte er die Begründung dafür in der Revolte selbst. Camus schreibt: „Doch halten wir das eine fest vor allem: die Grundlage dieses Wertes ist die Revolte selbst. Die Solidarität der Menschen gründet in der Bewegung der Revolte, und sie findet ihrerseits die Rechtfertigung nur in dieser Komplicenschaft.”„ Karl Rahner hätte diesen Standpunkt anerkannt, denn er schreibt zu dem Christentum: „Es selbst ist ja die gesellschaftlich organisierte Gemeinschaft des freien Glaubens an die absolute Zukunft, eines Glaubens also, der notwendig auf der individuellen Entscheidung des einzelnen beruht.”
„Und es gehörte zu Rahners Grundeinstellung, die anderen Religionen und Kulturen anzuerkennen und zu schätzen. Er schreibt, dass in der geschichtlichen und gesellschaftlichen Einheit der einen Menschheit der Weg des Christentums derjenige ist, in Freiheit in einer weltlichen Gesellschaft zu leben, die selber religiös pluralistisch sein will.” „Karl Rahner stellte auch die Frage”, fuhr Marwin fort „ob christliche und nicht-christliche Humanisten Feinde sein müssen, weil vielleicht die konkrete Zukunft, die jene planen, der widerspricht, die der Christ erbauen will?" Und Rahner antwortete darauf: „Aber das Christentum als Christentum fordert gar keine bestimmte konkrete Zukunft, und der Nicht-Christ wird hoffentlich auch nicht meinen, dass er sie schon als fertigen Fünf-Jahres-Plan in der Tasche hat. Warum sollten beide also nicht zusammen die Zukunft planen, die beiden unbekannt ist. Warum das Geahnte an ihr: Gerechtigkeit, Freiheit, Würde, Einheit und Differenziertheit der Gesellschaft, nicht gemeinsam sich deutlicher machen?”
„Hierin stimmten Karl Rahner und Albert Camus miteinander überein”, sagte Orélie und fuhr fort, „du weisst ja, dass sich nach der Veröffentlichung von Albert Camus' Essaysammlung Der Mensch in der Revolte im Jahr 1951 ein heftiger Streit zwischen Camus und seinem langjährigen Freund Jean Paul Sartre entfachte, da Sartre einen marxistisch geprägten Standpunkt vertrat, woraufhin die beiden sich entzweiten und verschiedene Wege gingen. Die Geschichte hat Albert Camus und seiner hellsichtigen Kritik an einem sozialistischen Gesellschaftssystem recht gegeben. Camus war nach dem Zweiten Weltkrieg bei dem Gründungstreffen des Conseil de Solidarité anwesend gewesen, an dem auch Abbé Pierre teilnahm. Die dort versammelten Personen sahen in einer weltbürgerlichen Einigkeit in der Verschiedenheit den wesentlichen Auftrag für die Zukunft.”

„Und Karl Rahner”, erklärte Marwin, „gehörte der Internationalen Paulusgesellschaft an, die 1955 gegründet wurde und eine Verständigung zwischen Christen und Marxisten anstrebte. Ihrem Namen liegt ein Satz des Apostels Paulus zugrunde: Zur Freiheit hat euch Christus befreit. In der Zeit des „Kalten Krieges” rief die Paulusgesellschaft zu einer friedvollen Verständigung zwischen Ost und West auf. Karl Rahner befürwortete in Gesprächen mit seinen kommunistischen Freunden

„jede sachlich sinnvolle innerweltliche Zukunftsplanung, wie die möglichste Befreiung des Menschen von der Herrschaft der Natur als auch die fortschreitende Sozialisierung des Menschen zur Erreichung eines möglichst großen Freiheitsraums.”

„Wir können festhalten”, brachte Orélie zum Ausdruck, „dass Albert Camus und Karl Rahner jede innerweltliche Zukunftsutopie ablehnten und für einen Dialog plädierten, der Respekt, Verantwortung und Toleranz erforderlich macht.”


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